Auf den Spuren des zerfallenden kubanischen Sozialismus
Die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Revolution in Kuba können nicht überdecken, dass das Land sich auf neue Zeiten vorbereitet. Die Revolutionäre sind alt, und der Sozialismus ist verkrustet. Die Bevölkerung steht einer demokratischen Öffnung recht offen gegenüber.
sut. Havanna, Mitte Februar in: Neue Züricher Zeitung NZZ Online vom 24.02.2009
Ricardo wirft stets ein Auge auf das Hotel «La Unión» in Cienfuegos, einer im Süden Kubas gelegenen Provinzstadt. Sein Blick gilt den zahlreichen Touristen, die hier aus und ein gehen. Verlässt einer das Hotel, fuchtelt er mit den Händen und lotst ihn in die gegenüberliegende Bar. Diese besteht gerade einmal aus einem Tresen und einigen wenigen Barhockern. Keine 15 Personen haben da Platz. Auf weniger als 15 Quadratmetern machen hier Einheimische mit den Touristen bei einem Mojito oder Bier Geschäfte. Ricardo bietet Zigarren der Marke Cohiba an, um die Hälfte billiger als in den vom Staat geführten Verkaufsstellen. Pro Stück muss man mit drei Pesos cubanos convertibles (CUC) rechnen, das sind etwa vier Schweizerfranken.
Gute Geschäfte im informellen Sektor
Ricardo erzählt ohne Umschweife, woher er die Ware bezieht. Sein Vater ist Wachmann einer Zigarrenfabrik und unterhält gute Kontakte zu den leitenden Personen des Unternehmens. Mit Bestechungsgeldern werden sie geködert, auf diese Weise lassen sich die begehrten Zigarren problemlos aus der Fabrik transportieren. Offiziell ist der etwa 25-Jährige Krankenpfleger. Gut dreissig Stunden arbeitet er in der Woche und verdient im Monat zehn Dollar, etwa so viel wie im informellen Sektor an einem Tag. Die Geschäfte liefen gut, meint er. Die Touristen seien dankbare Kunden. Der Schwarzmarkt sei effizient organisiert, mittlerweile reiche das Vertriebsnetz bis nach Venezuela. Mit dem Sozialismus könne er wenig anfangen. Er wolle legale Geschäfte machen, Geld verdienen, die Welt bereisen und das Leben geniessen. Das alles wisse der Staat zu verhindern. Darum hoffe er, dass sich Kuba nach der Castro-Ära endlich öffne.
Ricardo bietet nicht nur Zigarren an, sondern auch Frauen, und das ist eine sehr riskante Angelegenheit, denn der Staat verbietet Prostitution und Zuhälterei. Der Kubaner möchte aber nicht als Zuhälter gesehen werden. Er stelle nur den Kontakt her, betont Ricardo, alles Weitere gehe ihn dann nichts mehr an. Ein beliebter Sammelpunkt der Prostituierten ist die gut hundert Meter von der Bar entfernte Diskothek «El Beny». Der Eintritt kostet drei Pesos convertibles. Das können sich nur die kubanischen «Neureichen» aus dem informellen Sektor und die Touristen leisten. Carmen, eine 24-jährige Mulattin, ist mindestens einmal in der Woche da. Im zivilen Leben arbeitet sie in der Verwaltung eines Krankenhauses. Am Wochenende verdient sie ihr Geld im horizontalen Gewerbe. Ein grosszügiger Freier bringe ihr bis zu vierzig Dollar ein, sagt sie. Allerdings müsse sie immer auf der Hut sein. In die Diskothek schleusen sich gelegentlich zivile Polizisten ein, die auf Sitte und Ordnung achten und die Kontaktaufnahmen der Mädchen genauestens beobachten.
Jorge Castillo, ein Bühnentechniker des Gran Teatro de La Habana in der Altstadt der Kapitale, lässt hingegen keine Kritik am Regime der Castros gelten. Er habe als Matrose die ganze Welt zu sehen bekommen und nirgends ein Land gefunden, in dem man so unbesorgt und ruhig leben könne wie auf der Insel. Sicherheit und sozialer Frieden seien mehr wert als jeglicher materieller Wohlstand, der nur zur Dekadenz verleite, wie die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise beweise. Der Sozialismus wird seiner Ansicht nach in Kuba nicht untergehen. Die Zukunft gehöre zwar nicht mehr primär der castristischen, sondern der bolivarischen Revolution von Hugo Chávez, die sich auf den gesamten lateinamerikanischen Kontinent ausbreiten werde. Was aber, wenn das Erdöl in Venezuela versiegt? Ohne Öl, meint Castillo, werde die Welt überhaupt aufhören zu existieren. Damit erübrige sich jede weitere Frage.
Noch mehr Revolution?
50 Jahre nach der Machtergreifung Fidel Castros ist das sozialistische Kuba ein Land mancher Gegensätze und Widersprüche. Die Bemühungen, über die Revolution einen «neuen Menschen» und damit verbunden eine egalitäre und gerechte Gesellschaft zu formen, gingen nicht einher mit einer spürbaren Wohlstandsvermehrung, weshalb heute Güterknappheit und Unterentwicklung verbreitet sind. Ein Mindestmass an sozialer Sicherheit erlaubt zwar ein recht ruhiges und unbesorgtes Leben, jedoch würgt das Regime durch unzählige Reglementierungen, Verbote und Kontrollen jegliche individuelle Entfaltung ab. Auf der Insel kann gegenwärtig wohl jeder seine Grundbedürfnisse – manchmal zwar mehr schlecht als recht – befriedigen; wer mehr anstrebt, muss meistens staatliche Hürden illegal umgehen, was einige Risikobereitschaft voraussetzt. Für Lenin García, einen Touristenführer, ist Kuba daher «das schönste Land, wenn man arm ist, aber das allerschlimmste, wenn man reich werden möchte».
Das offizielle Kuba interpretiert die Lage natürlich anders. Rechtzeitig zum 50. Jahrestag der Revolution liess der Staat im ganzen Land Plakate und Banner anbringen, auf denen die «siegreiche Revolution» bejubelt wird. So siegesgewiss er sich gibt, ruft er die Bevölkerung doch immer wieder auf, weiter zu kämpfen und den Sozialismus zu verteidigen. Denn der Feind, der Kapitalismus, ruhe nicht, und der Sozialismus sei stets in Gefahr, unterwandert zu werden. Das Land müsse deshalb auf die Bedrohung und die Aggression mit mehr Revolution antworten. Die unzähligen Propagandasprüche und manche Artikel in der staatlichen Tageszeitung «Granma» bestätigen, dass das Regime gedanklich und rhetorisch noch immer im Kalten Krieg hängengeblieben ist. Es legitimiert sich weiterhin im Versuch, die Welt nach dem ursprünglichen Muster des Blockdenkens zu erklären. Oder wie Fidel Castro vor kurzem exemplarisch erläuterte: «Wenn es auf der Insel eine andere Partei als die kommunistische gäbe, wäre dies mit Bestimmtheit die Partei der Yankees.»
Bei diesem orthodoxen Lagerdenken fällt die Öffnung des Landes schwer. Als die grosszügigen finanziellen Zuwendungen aus der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre endgültig ausblieben, stürzte der Karibikstaat in eine tiefe Krise. Fidel Castro musste nachgeben, kleinere Privatisierungen zulassen und das Land nach aussen etwas öffnen, da es dringend Devisen benötigte. In der Tourismusbranche, heute eine der Hauptstützen der kubanischen Wirtschaft, bildeten sich darauf Joint Ventures mit ausländischer Beteiligung. Allerdings zog Fidel Castro eine Vielzahl der Privatisierungsmassnahmen wieder zurück, als sich mit den zaghaften wirtschaftlichen Reformen der Ruf nach politischem Umdenken verstärkte. Die bolivarische Revolution von Hugo Chávez Ende der neunziger Jahre kam für das kubanische Regime gerade rechtzeitig. Der venezolanische Präsident lässt seither grosszügig das Füllhorn über die Insel ausschütten.
Pragmatischere Töne
Der wirtschaftliche Zickzackkurs Castros brachte das Land in eine paradoxe Situation. Während es sich nach aussen stärker dem freien Markt zuwandte, unterband es im Innern fast jegliche Liberalisierung. Auf der einen Seite dringen vor allem über den Tourismus unverkennbare kapitalistische Eigenheiten ins Land, auf der anderen werden der Bevölkerung weiterhin sozialistische Werte abverlangt. Am deutlichsten manifestiert sich der Gegensatz in der Währung. Dem gering bewerteten Peso cubano nacional steht der im Tourismus gebräuchliche, etwa 25-mal höher eingestufte Peso cubano convertible gegenüber, der etwa dem Wert eines Dollars entspricht. Nur wer über Pesos cubanos convertibles verfügt, kann sich in Kuba etwas leisten. Um den Tourismus hat sich so eine Schattenwirtschaft gebildet, die sich nach dem simplen Gesetz von Angebot und Nachfrage organisiert und damit den Sozialismus in seinen Grundideen von unten konterkariert.
Bemühungen seitens des Staates, die Schattenwirtschaft einzudämmen, nehmen merklich ab, seit Raúl Castro an der Macht ist. Am 24. Februar jährt sich seine Wahl zum Staatsoberhaupt durch die Nationalversammlung zum ersten Mal, nachdem er zuvor das Land über anderthalb Jahre als Interimspräsident gelenkt hatte. Der Bruder des Langzeitherrschers schlägt sowohl in der Innen- als auch in der Aussenpolitik pragmatischere Töne als sein Vorgänger an, an das sozialistische Fundament rührt er aber nicht. In der «Granma» häufen sich die Todesmeldungen von treuen Revolutionären, das ganze Land ist bereits auf das Ableben seines einstigen charismatischen Führers vorbereitet. Nachfolger, welche die einstigen Ideale der Revolution vertreten, gibt es kaum mehr. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Sozialismus in Kuba gemeinsam mit den Revolutionären verabschieden wird.
Aber was kommt danach? Lenin García meint, dass Kuba reif für eine Demokratie sei, aber mit gewissen Vorbehalten. Das Land könne sehr wohl unterscheiden zwischen Fehlern und Errungenschaften des Regimes der Brüder Castro. Der Sozialismus habe nicht nur gerechtere soziale und sichere Verhältnisse gebracht, sondern auch die Bevölkerung gelehrt, selbstbewusst aufzutreten und sich nicht unterjochen zu lassen. Diese Errungenschaften dürften nicht um jeden Preis geopfert werden. Kuba soll sich daher seiner Meinung nach dem – von Hugo Chávez ausgerufenen – Sozialismus des 21. Jahrhunderts anvertrauen. Antonio Pérez, Leiter eines Kulturinstituts in Holguín, ergänzt, dass die Insel kein zweites Russland werden dürfe, wo nach der Implosion des Kommunismus die Gesellschaft gänzlich erodiert sei und wo heute einige wenige Clans über das ganze Land bestimmten.
Vor allem aber erhofften sich die Kubaner eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA, und damit verbunden die Aufhebung des Embargos. Kuba sei zu Gesprächen bereit, meint Pérez. Allerdings dürfe Amerika nicht meinen, wieder den grossen Bruder spielen und die Bedingungen diktieren zu müssen. Die Hoffnungen lägen ganz auf Barack Obama. Seine versöhnlichen Worte seien auf der Insel mit grosser Genugtuung aufgenommen worden.